16. Oktober 2016
Konfessionsfreier Seelsorger, ehemaliger Benediktinermönch (1959-2015) und Priester
Schleusenzeit
Termin bei der Palliativärztin. Sie schaut sich die letzten Befunde an. In der Entscheidung, mich auf keine Chemo oder Bestrahlung einzulassen, unterstützt sie mich. Die neu aufgetretene Metastase in der Leber scheint sie jedoch zu beeindrucken. Der Prozess sei viel weiter fortgeschritten, als meine gute Verfassung vermuten lasse. Sie lässt deutlich werden, dass wir realistischer Weise nur noch mit Monaten zu rechnen haben. Pflegebedürftigkeit kann bald und rasch eintreten. Wir beraten uns mit ihr über Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung.
Mein Vertrauensarzt, Facharzt für Naturheilverfahren, bläst vier Tage später ins gleiche Horn. Spontanheilung gebe es hin und wieder, sie sei jedoch wie ein Lottoschein mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu Millionen. Bei einem derart gestreuten Krebs stehe sie gänzlich außer Frage. Und wenn, dann sei sie wirklich spontan; sie könne weder herbeigewünscht noch herbeigeredet werden. Die eigenen Wünsche und Hoffnungen darauf zu fixieren, hindere nur, mit der Realität Frieden zu schließen und die tatsächliche Entwicklung innerlich mitzugehen. Daran ändere auch mein guter Allgemeinzustand nichts; sein Vater habe eine Woche vor seinem Krebstod noch völlig gesund ausgesehen. Allerdings würde ich mir durch Chemo oder Bestrahlung nicht nur mein gutes Allgemeinbefinden für die verbleibende Zeit zerstören, sondern mir endgültig die Chance nehmen, im Lotto zu gewinnen.
Von beiden Ärzten sehe ich mich also endgültig zu einem Patienten der Palliativversorgung erklärt. Ich erzähle Ligia von meinen Erfahrungen als Seelsorger auf der Palliativstation: es herrsche dort ein Friede, wie er sich auf den onkologischen Stationen nicht finde; er ergebe sich daraus, dass die Patienten der Palliativstation die entscheidende Weichenstellung hinter sich haben: sie schweben nicht mehr zwischen Hoffen und Bangen, fragen nicht mehr, ob sie noch um Heilung kämpfen sollen (bzw. um ihres Partners und ihrer Familie willen kämpfen müssen) oder sich ihrem Schicksal ergeben dürfen.
Der katholische Klinikseelsorger Ehrhard Weiher spricht unter Verweis auf die holländische Trauerforschering R.Smeding von einer „Schleusenzeit“.
Er bezieht dies auf den engen Zeitraum zwischen Tod und Begräbnis.
Ich habe bereits die Zeit, die die Patienten unter Begleitung ihrer Angehörigen auf der Palliativstation verbrachten, als eine erweiterte „Schleusenzeit“ empfunden.
Einmal über die beschriebene Weichenstellung auf der Palliativstation angelangt, gibt es für sie keine andere Zukunftsperspektive mehr als ihr baldiges Sterben.
Daraus ergibt sich gegenüber allem bisherigen Leben eine grundlegend veränderte Daseinsweise: die Offenheit nach beiden Seiten, zum Weiterleben und zum Sterben hin, die grundsätzlich jeden Augenblick unseres Lebens prägt, und die unter dem Druck einer fortschreitenden Krebserkrankung zu einem immer angespannteren Spagat wird, weicht einer Situation, die nur noch zum Tode hin offen ist. Es entsteht eine Zwischenzeit zwischen Leben und Tod, zwischen dem JETZT NOCH bestehenden Wartezustand vor dem Versterben des Kranken und dem NOCH NICHT eingetretenen Zustand des Weiterlebens der Angehörigen nach seinem Versterben.
Es ist in meiner Sicht und Erfahrung eine Zeit intensiver Umpolung und Umdeutung.
Der Kontakt zwischen dem Kranken und seinen Angehörigen wird mit zunehmender Intensität unter der Perspektive dessen erlebt, was jetzt noch ist, aber bald nicht mehr sein wird.
Unter dem schmerzhaften Bewusstsein der Vergänglichkeit und zeitlichen Befristung des gegenwärtigen Daseins für- und miteinander wird immer klarer und tragender die tiefere Bewusstseinsebene spürbar,
auf der sich den Betroffenen mitteilt, was ihnen für immer bleibt.
In der Bibel manifestiert sich diese Dynamik mit berührender und beeindruckender Klarheit und Tiefe in den Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium (Joh 13,31-17,26).
Es sind Reden Jesu am Abend vor seinem Tod, sozusagen in der Schleusenzeit seines Übergangs aus dieser Welt zum Vater.
Was es JETZT NOCH an Verbundenheit mit seinen Jüngern gibt, wird an diesem Abend in seiner unwiderruflichen Vergänglichkeit umgepolt: aus dem Ende wird ein Anfang. Die zeitliche Befristung wird umgedeutet; vor dem Auge des Herzens wird sie durchsichtig für die Verbundenheit,
die in der NOCH NICHT eingetretenen Zeit nach seinem Tod „bleibt“: für die unverlierbare Verbundenheit in seiner Liebe.
Gerade in der "Schleusenzeit" am Abend vor seinem Tod, unter dem drückenden Schatten der Vergänglichkeit seines irdischen Zusammenseins mit den Seinen,
erweist sich diese Liebe als die Wahrheit, die keiner Vergänglichkeit unterliegt.
Im Ritus des letzten Mahles vollzieht sich diese Umdeutung und Wandlung an Brot und Wein: Zeichen der alltäglichen, irdisch-menschlichen Verbundenheit
werden unter den Händen Jesu zum Zeichen seiner bleibenden Gemeinschaft mit den Seinen über Abschied und Tod hinaus, zum Zeichen ihrer bleibenden Verbundenheit mit ihm und miteinander
in der Wahrheit seiner Liebe.
Von den beiden Ärzten, die uns auf unserem Weg mit dem Krebs begleiten, sind wir beide, Ligia und ich, mit sanftem, aber unüberhörbarem Nachdruck in unsere Schleusenzeit eingewiesen worden.
Den Spagat zwischen meinem Weiterleben und meinem Sterben gibt es für uns nicht mehr; vor uns liegt, wenn wir uns an die Tatsachen halten, nur noch die Perspektive des Sterbens.
Wenn wir diese ärztliche Einweisung ernst nehmen, entsteht für uns der Schleusenraum, in dem die beschriebene Umpolung sich an uns vollzieht. Wir erfahren unter unseren Händen, in den Zeichen unseres alltäglichen Lebens miteinander, das Mysterium der Wandlung, wie es beim Letzten Mahl Jesu mit den Seinen an Brot und Wein geschah: die Umdeutung unserer irdischen und vergänglichen Verbundenheit in das, was für immer bleibt und trägt: die unverlierbare Wahrheit der Liebe.
Siehe auch Predigt zum 19 Jahressonntag, Mt 22,19, Lesejahr A:
Ein eigenartiges Bild: Jesus kommt auf seine Jünger zu - und sie halten ihn für ein Gespenst - und schreien vor Angst.
Und Petrus, der sofort auf die Stimme Jesu eingeht und sich auf's Wasser begibt - er tritt die gewagte
Flucht nach vorne an. Er riskiert alles: nicht nur, ob das Wasser auch wirklich trägt, sondern auch, ob das
auch wirklich Jesus ist, der da über das Wasser auf ihn zukommt. Es gibt dafür keine eindeutigen Beweise
- es gibt nur die Alternative: entweder ist dies ein Gespenst - und man kann nur noch um sein Leben
schreien, oder man wagt das Vertrauen und lässt sich darauf dann aber auch ganz ein. Denn das Boot
bietet den Schreienden keinen Schutz mehr, - nur noch in diesem Schritt nach vorn, in das Vertrauen
hinein, liegt eine Chance. Wenn, dann kann nur noch das Vertrauen tragen.
Solche Situationen erleben wir immer wieder: Wenn das, was uns bisher getragen hat, auf einmal keinen
Schutz mehr bietet, und das Unheil greifbar nahe wie ein Gespenst auf uns zukommt - dann bietet nur
noch der Schritt nach vorne, über den Bootsrand hinaus, eine Chance, wenn es denn überhaupt noch eine
Chance gibt. Die Chance nämlich, dass das, was da auf mich zukommt, kein böses Gespenst ist, sondern
die geheimnisvolle Nähe Jesu, der mich zum Leben ruft.
Ich denke, wenn wir sterben, kann das ein ähnliches Erlebnis sein. Da sinkt ja alles zurück, was uns in
dieser Welt getragen, was unserem Leben Orientierung und klare Konturen gegeben hat. Was auf uns
zukommt, ist unbekannt, ungreifbar, aber dennoch bedrängend nahe, und scheint das Leben selbst zu
bedrohen. Da kann es sein, dass Leib und Seele sich aufbäumen in schreiender Angst. Und es kann sein,
dass wir dann diese Stimme hören, die uns einlädt zu vertrauen: der da auf uns zukommt, das ist ER, der
uns liebt und Leben schenkt, der uns hält und birgt. Es kann sein, dass dann auch wir uns - wie Petrus -
entschlossen über den Bootsrand unserer ganzen irdischen Lebensgestalt, die nun nicht mehr trägt,
hinauswagen ins Nichts - auf IHN zu, allein von diesem Vertrauen getragen.